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Der Gang

Autor: Brian Barth, 1996

Der Weg scheint ewig, die Treppen sind beschwerlich, schmutzige Patina verhüllt den weißen Stein in ein diesiges Grau. Selbst noch vor der ersten Stufe ist es unmöglich, den gesamten Komplex zu übersehen. Seine Größe ist mächtig. Macht wohnt jedem gehauenem Stein inne, der, aneinandergereiht, aufeinandergetürmt, das Tor darstellt.
Richtig erkennen kann man den Torbogen nicht, da beim Aufblicken die Sonne zu sehr blendet. Treppen führen von links und rechts weg, im Halbkreis führen sie aufwärts. Sie sind breit, ganze Prozessionen müssen hier Platz gehabt haben. Zu fünft nebeneinander, alle in schwarzer Kutte mit roten Bändeln, die Kapuze über das Haupt, Schatten fiel in der Dämmerung über das Gesicht, nur die Kerze in ihrer Hand ließ ein paar Gesichtszüge eines jeden erblicken. So zogen sie hinauf, zu fünft nebeneinander, fünfundfünfzig hintereinander. Vorne weg drei, die ähnlich gekleidet waren, aber ihre Kutten wirkten schwerer.
Die beiden äußeren trugen Fackeln, der in der Mitte, der größere, trug etwas, was man aus der Entfernung und der einsetzenden Dunkelheit nicht genau erkennen konnte. Sie nahmen jede Stufe, jede Stufe nahmen sie einzeln, immerzu mit dem rechten Fuß stiegen sie hinauf zur nächsten Stufe, zogen dann den linken langsam hinterher, ihr sonst kaum wahrnehmbarer Gesang wurde bei dieser Bewegung etwas lauter. Ein kurzer Halt vor der nächsten Stufe ließ den Gesang wieder in die Entfernung entschwinden.
Diese Steine können Geschichten erzählen, gespeichert in ihren Poren und Löchern, sie strahlen Beständigkeit aus, ihre Kühle kontrastiert mit der Hitze der Sonne, die nicht die Kraft besitzt, die Steine zu wärmen, so sehr ist die Macht des Schattens. Unzählige Treppen sind zu ersteigen, durch die Aussparungen des steinernen Geländers sieht man die Straße sich unten entfernen.
Mühsam kommt man in den Bereich, indem das Tor die Sonne gerade noch zurückhält. Zum ersten Mal ist ein ungestörter Blick möglich, aus der nun größeren Nähe zeigt sich das Tor in gigantischen Ausmaßen, seine Höhe vielleicht zwölf Menschen hoch, dicke Pfeiler stützen den Rundbogen, im Inneren ist Holzwerk zu erkennen, vermutlich stellte dies einmal ein Gittertor dar.
Immer noch, Fuß um Fuß, wird jede Stufe erklommen, der Torbogen öffnet sich immer weiter, die Plattform vor dem Tor ist nahe. Gerade als man durch das Tor blicken könnte, sticht die Sonne durch und füllt es mit Licht. Eine blitzartige Drehung erlaubt die Erlösung der Blendung, und nun endlich auf der Plattform stehend, einen Blick auf die klein wirkende Stadt, die dort unten erhellt wird von dem Licht, das durch das Tor fällt. So schritten sie durch das Tor. Der Schein der Fackelträger ließ für einen Moment das Tor von innen erbrennen. Klar ersichtlich waren nun die spitzen Zacken des hölzernen Gitters, das dort drohend in der Höhe hing. Welch gewaltiges Gewicht mußte es haben, welch großes Geheimnis mußte es bewachen? Nun, da der Gesang wieder einsetzte, wich das Licht der Fackeln dem Ton, der jetzt vom Tor widerhallte und die Stadt erfüllte.
So bewegte sich die Prozession langsam, Mann für Mann, vorwärts durch das Tor und verschwand dahinter im Dunkeln. Nur der Gesang derer, die schon hindurch waren, kündete von deren Existenz. Derart zogen sie alle hindurch, und bald war nur noch ihr Gesang zu hören, der jetzt immer lauter und kräftiger wurde. Gleich hörte man höhere Stimmen, dann tiefere, und der Choral verschallte mit den Bässen.
Lange Zeit sah man nichts mehr, bis plötzlich die Fackelträger auf einer Anhöhe wieder sichtbar waren und bald die ganze Prozession bei genauem Hinsehen erkennbar wurde. Wie eine glimmernde Raupe bewegte sie sich.
Trotz der Entfernung war der Gesang deutlicher denn je zu hören, Höhen und Tiefen vermischten sich zu einem vibrierenden, anhaltenden Ton, dessen Lautstärke schmerzend zunahm, bis der Zug hielt und dann nur noch das Echo aus der weiten Stadt für einige Sekunden wahrnehmbar blieb.
Die Lautstärke und die Abgase der Autos werden einem erst jetzt richtig bewußt, sie glänzen in der Sonne. Die Straße wird von Hausreihen umzäunt, die sie bis in die Entfernung begleiten und dort im Dunst verschwinden. Die Wärme der Sonne zieht einen förmlich an und die letzten Schritte sind getan, direkt vor dem Tor gilt es den Eintritt zu wagen in die Helle, in die Wand des Lichtes. Gleißend blendend, angewachsen die Hitze, um einen herum irren die Lichtstrahlen. Nach ein paar weiteren Schritten durch das Licht erscheinen kaum wahrnehmbar zwei hellgrüne, kleine Flecken.
Endlich läßt auch die schmerzende Helligkeit ein wenig nach, und als die Augen sich erholen, wieder, wieder gehen links und rechts Treppen halbkreisförmig hinauf, scheinbar zu einer Terrasse, einer zweiten. Die Treppen umzingeln, wie jetzt erkennbar, eine kleine Grünfläche, darauf links und rechts zwei Palmen. Im Hintergrund, auf den porösen Stein geschrieben, in grün: "Kurt Cobain vive!! Micky." Zwar blendet das Licht nicht mehr wie in dem Tor, jedoch ist es wärmer geworden, oder vielleicht auch nur ein Gefühl, erregt durch das ständige Treppensteigen.
Immer noch diese gigantischen Treppen, die jetzt nur noch innen ein Geländer haben, außen umgibt sie die Mauer der Terrasse, auf die sie führen, die aber lange nicht so hoch liegt wie die Kuppe des Tores. Beim Hinaufsteigen dreht man sich um die Palmen, deren Blätterwerk bald unter einem verschwinden.
Das Licht ist so anders, hinter dem Tor, es scheint ungerichtet, es ist überall, keine Schatten, keine Rettung vor den Strahlen, der Wärme. Endlich auf der zeiten Terrasse angekommen, zeigt sich ihre unglaubliche Größe. Wieviel Mauerwerk und Gestein muß hier zusammen getragen worden sein, um diese Plattform zu errichten, die, wie sich nun zeigt, an einen Hügel herangebaut ist. Auf ihr Palmeninseln, umstellt mit Bänken, wieder und wieder, so groß im Ausmaß ist sie. Trotzdem besitzt der Hügel eine magische Anziehungskraft. Enge Gassen, ähnlich breit wie die Treppen, sichtlich aus dem Hügel geschlagen, führen nach oben. Nichts als Häuser sind zu sehen, aber alle Gassen scheinen das gleiche Ziel zu haben. Erst jetzt lernt man die Leichtigkeit der Stufen zu schätzen, nur schleppend ist der Weg bewältigbar, die Wärme und die dünne Luft tun ihr nötiges dazu. Und doch ist ein Ende absehbar.
Schon jetzt zeigt sich dort, nicht ganz oben, zwischen den Häusern, ein kleines Plateau, zu dem wieder Treppen hinauf führen. Mag hier das Ziel sein?
Noch ein paar Meter entfernt, und doch quälend, zieht man sich entlang der Häuserwände den Berg hinauf. Die Treppen schon im Auge, bleiben die letzten Schritte dorthin zu meistern. Noch ist kein Blick gewährt auf das, was sich dort oben verbergen mag.
Die unterste Stufe ist erreicht, die Augen strengen sich an, noch scharf zu erkennen, was sich ehrfürchtig vor einem auftut: der mächtige Dom.
Lange Zeit war nichts mehr zu hören. Man konnte die Fackeln noch erkennen, sie wurden scheinbar abgesetzt und befestigt. Der Prozessionszug lief auf die Fackeln zu und stellte, Mann für Mann, seine Kerzen vor ihnen ab und verschwand dann in der Dunkelheit. Die Fackeln standen links und rechts dahinter, in der Mitte, scheinbar auf etwas liegend, befand sich das, was der größere Kuttenträger in der Hand hatte. Es entstand ein Dreieck aus Licht, die Spitze dem Gegenstand zugewandt. Das Kerzenmeer wuchs an und mit ihm das Licht, und erst als die letzten Kerzen aufgestellt wurden, konnte man erkennen, daß es sich bei dem Gegenstand um eine Urne handelte. 275 Kerzen beschienen sie in aller Stille, doch der Wind brachte das Licht zum Wanken, und es schien mal hier, mal dort. Jetzt erst konnte man den großen Kuttenträger sehen, der hinter der Urne stand.
Seine weißen Hände waren erhoben und ausgebreitet, jede über einer Fackel. Es verging einige Zeit, bis die Stille von einem erneuten Laut aus der zwar vorhandenen, aber unsichtbaren Menge unterbrochen wurde. Diesmal waren es eher Worte als Gesang, dennoch, ein wenig Musik wohnte ihnen bei. Man konnte nur vermuten, daß die unzähligen Diener sich links und rechts vom Altar niedergelassen hatten. Der große Kuttenträger dahinter führte seine Hände auf die Urne zu und erhob deren Deckel. Er hob ihn in die Höhe und, soweit der Lichtschein eine Beurteilung zuließ, verweilte in dieser Position solange, bis das nun eingesetzte Gemurmel aufhörte.
Alsdann gab er den Deckel zur Seite, wo ihn die Dunkelheit schluckte.
Die linke Fackel bewegte sich aufwärts und er hielt sie vor seinen Körper, so daß man die Konturen seines älteren Gesichtes sehen konnte. Eine unglaubliche Ruhe erfüllte die nächste Minute, nur der Wind brachte etwas Bewegung in die Flammen, die zu singen schienen.
Er senkte die Fackel zur Urne herab und berührte mit ihr den Staub, der darin lag. Der Urne entzuckte ein gewaltiger Blitz, der alle Kerzen ausblies. Mit sich nahm er alles Licht ins Nirvana.